«Hansruedi Scheller — Signaletikpionier»
August 2024 | Irene Stutz
Schon während der Präsentation der Buchinhalte an der Vernissage des Buches «Hansruedi Scheller — Signaletikpionier» an der Berufsschule für Detailhandel und Pharmazie in Zürich – einer der Wirkungsstätten Hansruedi Schellers – wurde mir klar: Rund um dieses Buch plane ich einen Team-Workshop! Thomas Bruggisser, einer der Autoren des Buches und Grafiker-Freund, fokussierte auf einzelne Arbeiten seines ehemaligen Berufsbildners (damals: Lehrmeister) Scheller und fasste sieben seiner Grundregeln für Signaletik zusammen. Gelten sie noch heute und für Signito ebenso? Welche Aspekte sind heute relevant? Ein vielseitiger Diskussionsraum entstand für mich und mein Team – hier eine kurze Zusammenfassung:
Das Buch
Hansruedi Scheller (1931–2007) war ein Schweizer Grafiker und gestaltete mit seinem Team in den 70er-/80er-Jahren Beschriftungen, Bemalungen und Wegleitsysteme für rund 230 Grossbauten im Grossraum Zürich. Insbesondere bearbeitete er öffentliche Gebäude und Orte wie Einkaufs-, Sport- und Gemeindezentren, Schulhäuser, Spitäler, Parkhäuser, Kasernen oder Hallenbäder. Es entstanden neue, multifunktionalen Grossbauten mit viel Beton (und heute vielleicht sogenannten «Unorten»). Mit seiner Arbeit beabsichtige Scheller, den sich in den oft auch komplexen Räumen bewegenden Menschen Orientierung zu geben und die Orte «angenehmer» zu machen. Er sprach deshalb auch von der «Humanisierung der Architektur» als Ziel seiner Arbeit.
Er integrierte in seinen systematischen Arbeiten, die er für jeden Bau individuell neu gestaltete und die Teil der Architektur waren, oft Farbkonzepte, Illustrationen und Piktogramme. Sein Fokus lag dabei in der Suche nach geeigneten Materialien und Montagetechniken für seine Signaletik-Projekte; es gab zu dieser Zeit keine Vorbilder oder Erfahrungswerte – eine «Fachplanung Signaletik», wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Nicht selten übernahm er auch die Produktion und Montage selbst und realisierte z. B. die Wandbemalungen mit seinem Team in Eigenregie oder montierte Schilder vor Ort. Damit prägte er die Anfänge unserer Disziplin Signaletik entscheidend mit. Ist er somit – wie im Titel des Buches vorgeschlagen – der Signaletikpionier?
Der Pionier
Wir haben uns im Team gefragt: Was ist ein Pionier, eine Pionierin überhaupt? Gemäss Duden ist es eine Person, die auf einem bestimmten Gebiet bahnbrechend ist; ein:e Wegbereiter:in. So dachten wir auch: Ein Pionier ist ein Vordenker, eine Pionierin die Erste; eine Erfinderin, eine Vorreiterin. Auf jeden Fall eine unbeirrbare Person, die eigenständig und konsequent ihren Weg geht, ohne dass dieser bereits bekannt ist; mit einem gewissen Erfindergeist.
Hansruedi Scheller arbeitete in einer Zeit, in der bei seinen Auftraggeber:innen in der Architektur Neues entstand. Die städtebaulichen, gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen (Vorspanntechnik, Tiefgaragen mit grossen Auf- und Abfahrten, Zentren mit Rolltreppen und Liften ohne Personal, …), die sich auch in einer neuen Architektur-Sprache manifestierte, war seine Ausgangslage als Grafiker. Sie war neuartig und er nahm die Herausforderungen an. Er war darin nicht verloren, sondern erfand neue, zeitgemässe und richtungsweisende gestalterische Ausdrucksformen und Design-Lösungen, die er zuerst «Baugrafik», später «Signaletik» nannte; durchaus pionierhaft, wie wir finden.
Die Grundregeln
Hansruedi Scheller fasste seine Erfahrungen zu sieben Grundregeln zusammen. Thomas Bruggisser, der seine Lehre im Atelier Scheller gemacht hatte, rekonstruierte und illustrierte sie – eine spannenden Ausgangslage für die Diskussion im Team:
1. Orientierungspläne
Orientierungspläne in Form von abstrahierten Grundrissen funktionieren am ehesten zur Orientierung und Übersicht – da stimmen wir zu. In einem aktuellen Projekt setzen wir jedoch mehrere Drohnenbilder in Orientierungsplänen ein – die Einbettung in die Natur und das Gebäude-Ensemble selbst sind architektonisch prägend, und dies wollten wir mit detaillierten Fotografien anstelle abstrahierter Grundrisse zeigen. Ausserdem ist die Vogelperspektive vielleicht für gewisse Menschen einfacher zu lesen. Grundrisse sind für Nicht-Architektinnen und Nicht-OL-Läufer etc. grundsätzlich schwierig zu lesen. Wir setzen uns auch deshalb seit dem ersten Projekt bei Signito vehement und konsequent dafür ein, dass die Grundrisspläne «wenigstens» lagerichtig abgebildet sind. Hier sind wir ganz beim Signaletikpionier.
Hansruedi Scheller meint weiter: «Der Standort sollte unten auf dem Plan sein.» Damit sind wir grundsätzlich ebenfalls einverstanden – Orientierungspläne finden wir insbesondere an «Eingängen» oder Rändern eines Areals hilfreich, und da funktioniert diese Regel. Steht ein zusätzlicher Orientierungspunkt jedoch in der Mitte eines Areals (z. B. aufgrund eines Ankunftsortes [Bahnhof, Parkplatz, …], stimmt diese Regel nicht mehr. Interessanterweise finden wir in den Abbildungen im Buch viele Beispiele Schellers Arbeiten, in denen er diese Regel ebenfalls nicht anwenden kann.
Der Abstraktionsgrad der Gebäude und der Umgebung ist immer wieder ein grosses Thema in unserer Arbeit. Wichtige Landmarks integrieren wir teilweise realistisch illustriert in abstrahierte Pläne, damit sich die Nutzenden noch besser orientieren können – Google wendet diese Technik schon seit 2019 an. Auch der Umgang mit Texten und Legenden auf den Plänen ist eine zusätzliche Herausforderung. Heute werden mehr Informationen auf den Orientierungsplänen gewünscht, als dies zu Schellers Zeiten der Fall war: öV-Haltestellen, Infopoints, öffentliche Toiletten, Trinkwasser, Defibrillatoren etc. Die Integration von Piktogrammen und Texten auf den Grundrissen oder das Zusammenspiel der Grundrisse mit Legenden ist eine wichtige gestalterische Aufgabe in unserer Arbeit.
2. Nummerierung
Dass die Raumnummern von Architekt:innen auf den nach Norden ausgerichteten Grundrissplänen von oben links nach unten rechts vergeben werden, stört uns immer wieder. Selbstverständlich sollte die Raumnummernsystematik aufgrund der Bewegungslinien der Nutzenden der Gebäude gedacht werden. Wo sind die Zugänge und wie bewegt sich der Mensch zu seinem Zielort? Die Beispiele im Buch sind sehr vereinfacht dargestellt (aber grundsätzlich richtig). Was, wenn es mehrere Eingänge zu einem Gang gibt oder Quergänge die Situation verkomplizieren? Je einfacher die architektonische Situation, desto einfacher die Raumnummernsystematik.
Wir sind in bei diesem Thema oft nicht nur mit der Nummer eines Raumes konfrontiert, sondern empfehlen den Bauenden auch die gesamte Nomenklatur, die Begrifflichkeiten der Räume, Geschosse und Gebäude selbst bewusst zu wählen. Der Zeitpunkt, wann wir im Projekt dazukommen, entscheidet, wie stark wir bezüglich Raumnummern und Nomenklatur – als Anwältin der Nutzenden – Einfluss nehmen können.
3. Pfeilrichtung
«Ein Pfeil darf nie zum Wort zeigen», definiert Scheller richtigerweise. Wir sagen dem «ein stossender Pfeil»; und der ist stossend. Auch wir sprechen für «ziehende Pfeile» und favorisieren daher sogar bei einem Pfeil nach rechts einen rechtsbündigen Text. Denn: Wir wollen den Pfeil nach rechts nicht benachteiligen. Ausserdem soll der Inhalt und der Pfeil möglichst eine visuelle Einheit darstellen.
4. Richtung, Weiterleitung und Bestätigung
Scheller nennt es «Richtung, Weiterleitung und Bestätigung». Vollkommen richtig! Insbesondere die Bestätigung «Ich bin am Zielort angelangt!» fehlt in schlechten Systemen oft. Wir bei Signito haben die Begriffe «Orientierung, Wegweisung & Identifikation» definiert. Alle Zielorte, die gewiesen (und identifiziert) werden, sollten auch auf der Orientierung aufgefunden werden. Deshalb beschreiben wir Signaletik als ein einheitliches, visuelles System zur Orientierung, Wegweisung und Identifikation. Damit meinen wir auch ein gestalterisches Gesamtkonzept, welches alle Typen zusammenhängend definiert: über die Farbe, das Material, den Glanzgrad, die Formensprache, die Schrift, Piktogramme, Raster etc.
5. Gliederung durch Abstände
Wir sind mit Schellers Darstellungen einverstanden. In schlechten Beispielen sehen wir je einen Pfeil pro Zielort und sind erstaunt über diese unnötigen Verdoppelungen (oder Vervielfachungen). Wie bereits bei der Regel «Pfeilrichtung» erwähnt, möchten wir Zielorte nach rechts nicht benachteiligen und würden sie wohl rechtsbündig setzen. Und: Wir würden zwei Schilder planen, falls dies möglich ist (eines nach links, eines nach rechts; auf derselben Höhe).
Bei mehreren Zielorten in unterschiedlichen Richtungen und mit nur einem Schild als Wegweisung wird es inhaltlich schwierig. So haben wir als gestalterische Variante auch schon die Pfeilrichtung in einer Spalte neben die Zielorte gesetzt, um Ruhe und Einfachheit (bessere Leserlichkeit) zu erzielen.
6. Abfolge der Anlaufziele
Das Klappprinzip funktioniert unserer Meinung nach genauso gut wie das umgekehrte Prinzip: Der nächste Zielort wird als erstes aufgeführt, der zweite als zweites, usw.; dies entspräche der Lesereihenfolge. Ggf. ist auch die Relevanz oder Hierarchisierung der Zielorte ein Argument für die Reihenfolge: Die Zielorte werden nach Wichtigkeit sortiert.
Ob die Schilder rechts oder links der Strasse platziert werden, hängt oft von der Machbarkeit und den Grundeigentumsrechten ab und weniger von der Reihenfolge der Pfeilrichtungen. Die Regel: «Niemals zeigt ein Pfeil (nach unten) zu Zielen, die im Rücken liegen» unterschreiben wir sofort. Wir versuchen auch den Pfeil nach oben (in den Himmel) grundsätzlich zu vermeiden, insbesondere in Gebäuden. Im Strassenverkehr funktioniert dieser, weil ich tatsächlich (noch?) nicht nach oben lenken kann. Dasselbe gilt bedingt für Fussgänger im Aussenraum. In Gebäuden jedoch nicht: Hier funktioniert ein Pfeil nach oben nämlich nur als Hinweis für eine Vertikalbewegung mit dem Lift oder der (Roll-)Treppe ins nächsthöhere Geschoss; und dito ist auch der Pfeil nach unten anwendbar (ins nächsttiefere Geschoss). Aber nur dann!
7. Schriftgrössen
Dass die Grösse von Schriften und Zeichen nicht linear zur Sichtdistanz wächst, sondern leicht überproportional: das stimmt! Wir finden: Auch die Applikationshöhe der Information ist bei der Beachtung der Grösse relevant. Denn das Sichtfeld ist entscheidend, ob Nutzende die Inhalte sehen oder nicht. Ausserdem spielen bei der Wahl der Grösse viele weitere Parameter eine Rolle: Schriftart, Kontext, Kontrast, Untergrund, Glanzgrad, flache oder räumliche Objekte etc. Deshalb sind für uns 1:1-Bemusterungen für die Beurteilung und Wahl äusserst relevant.
Neben den bereits erwähnten weiteren Themen …
- Legenden/Texte auf Orientierungsplänen
- Nomenklatur, Begrifflichkeiten
- Materialität, gestalterisches Gesamtkonzept 2D/3D
… sind für uns auch folgende Themen in unserer täglichen Arbeit äusserst relevant:
- Integration vs. Abgrenzung CD/Logos
- Inklusion
- Schnittstellen zu weiteren Gestaltungskonzepten: Licht, Farbe, Akustik, …
- Piktogramme, Symbole, Zeichen, Illustrationen
- Reklamekonzepte | Abgrenzung/Integration Werbung
- Digital Signage & Schnittstelle zu Internetseiten
Immer wieder suchen und finden wir Regeln und Umgangsformen, die für unsere Projekte funktionieren. Manche bleiben und sind grundlegend für gute Signaletik, andere funktionieren nicht mehr. Wir entwickeln uns stetig weiter.