Wayfinding

Die Kunst und Wissenschaft, wie wir unseren Weg finden und verlieren

August 2021 | Christoph Friedli

Nach welchen Regeln sich Personen im Raum orientieren und bewegen ist ein Thema, welches uns bei Signito täglich beschäftigt: Was verleitet uns, in einem Raum nach links und nicht nach rechts zu gehen? Wie finden wir Ein- und Ausgänge in komplexen Gebäudesystemen? Warum können wir uns an gewisse Wege besser erinnern als an andere?

Das sind Fragen, denen wir als Signaletiker bei Signito auf den Grund gehen. So auch das 2020 erschienene Buch «Wayfinding» von Michael Bond, das anhand von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufzeigt, wie wir im Alltag navigieren.
Ich habe das Buch für unser Signito-Team und alle, die sich für das Thema «Orientierung» interessieren, gelesen und zusammengefasst.

Wayfinding Cover von Michael Bond "The Art and Science of How we find and lose our way"

Die ersten Wegweiser

 

Vor über 75’000 Jahren verliessen die Homo Sapiens Afrika und besiedelten die Welt. Im Gegensatz zum Homo Erectus und zum Neandertaler zog es den Homo sapiens in die Ferne, er bewegte sich deutlich weiter weg als die beiden anderen Spezies zuvor. Man geht davon aus, das die Homo Sapiens die sozialste der drei Spezies war: sie scheuten sich nicht, für Informationen über Nahrung, Wetter und Schutz auch weite Weckstrecken in Kauf zu nehmen.

 

Für die Pflege dieses «sozialen Netzwerks» mit andern Stämmen entwickelten sie ausgeprägte Navigationsfähigkeiten, räumliches Bewusstsein und Orientierungssinn. Die zurückgelegten Pfade wurden mental festgehalten, oder in Holz und Stein geritzt. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die früheste Form der Sprache zur Wegvermittlung entwickelt hat. Sehr spezifische Namen für Orte und Wege wurden so über mehrere Generationen weitergegeben und bestehen Teils bis in die heutige Zeit als «Landmarks».

Mental Map Zeichnung

Das Recht umherzustreifen

 

Wie oft man als Kind durch die Nachbarschaft und die anliegenden Wälder gestreift ist hat einen direkten Einfluss auf die späteren Navigationsfähigkeiten. Wer also «aktiv» zu Fuss oder mit dem Fahrrad zur Schule fährt ist klar im Vorteil, gegenüber denen, die «passiv» mit dem Auto von den Eltern gebracht werden.

 

Gute Navigatoren und Navigatorinnen (gelernt in der Kindheit), haben grundsätzlich weniger Mühe, nicht nur räumlich ihren Weg zu finden, sondern sich auch allgemein im Leben zu orientieren.

Viele Wege führen zu unterschiedlichen Orten - Karte mit vielen Wegen

Karten im Kopf

 

Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass für gute Navigationsfähigkeiten ausgeprägte Neuronen im Hippocampus sowie der Gleichgewichtssinn verantwortlich sind.

Maus navigiert sich über Räume

Denkraum

 

Erinnerungen sind oft an einen Ort gebunden: Wer eine Erkenntnis an einem bestimmten Ort hatte, erinnert sich oft wieder daran, wenn er an diesen Ort zurückkehrt. Als «räumliche» Wesen haben unsere Navigationsfähigkeiten und unser soziales Verhalten einen grossen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit; depressive Menschen beschreiben oftmals das Gefühl «verloren» zu sein.

Taucher hat Karte in der Hand und Glühbirne

Von A nach B und wieder zurück

 

Die Art wie jemand navigiert wird in zwei Ansätze unterteilt und gleichermassen zu 50% der Menschen genutzt:

 

  • Beim egozentrischen Ansatz nimmt der Mensch die eigene Perspektive ein und navigiert nach sogenannten «Landmarks», also nach markanten Merkmalen in der Umgebung.

 

Schwierig wir die Navigation bei dieser Methode, wenn auf einmal einer dieser «Landmarks» nicht mehr vorhanden ist, weil zum Beispiel ein markant aussehendes Gebäude abgerissen wurde.

Diese Methode benötigt ein hohes Mass an räumlichem Vorstellungsvermögen, gilt jedoch als nicht sehr flexibel, da man sich selbst auf gewisse «Landmarks» und damit auf vordefinierte Wege festlegt.

 

  • Beim räumlichen Ansatz nimmt der Mensch die Vogelperspektive ein und sieht sich selbst im Bezug zu seiner Umgebung. Mit dieser Methode fällt es einem einfacher, bisher unbekannte Abkürzungen zu nehmen. Deshalb ist sie einiges flexibler.

Egozentrische vs räumliche Navigation

Du gehst deinen Weg, ich gehe meinen

 

Warum bei gewissen Menschen die Navigationsfähigkeiten besser ausgeprägt sind als bei anderen ist schwierig zu sagen.

 

Viel wichtiger als ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen sind gewisse Persönlichkeitsmerkmale: Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Geselligkeit sind die wichtigsten Voraussetzungen, um ein guter Navigator oder eine gute Navigatorin zu sein.

 

Stereotypisch gilt bis heute, dass Männer bessere Navigatoren als Frauen sind, obwohl die dem zu Grunde liegenden Jäger- und Sammler-Rollen bis heute nicht nachgewiesen werden können (übrigens genau so wie die Jäger-Sammler-Rollen, aber das ist eine andere Geschichte).

 

Viel wahrscheinlicher ist der Unterschied nicht evolutionär sondern in der Erziehung zu suchen. In Ländern wie Norwegen, Schweden und Finnland, wo Mädchen und Jungen mit den gleichen Freiheiten und Förderung aufwachsen, sind auch im späteren Leben keine Unterschiede in den Fähigkeiten der Navigation zwischen den zwei Geschlechtern erkennbar.

Aufbauschwierigkeiten mit Möbelstück

Die Psychologie des Verlorenen

 

Die Angst, verloren zu gehen, liegt tief in unserem Innern verankert – es bedeutet schliesslich in manchen Fällen den sicheren Tod. Erst einmal verloren, zeigt die Erfahrung, dass man sich dem inneren Drang, immer weiter zu gehen möglichst widersetzen soll: Im Nebel, der Wüste oder dichtem Wald ohne räumlichen Merkmale ist es fast unmöglich, mehr als ein paar Meter gerade aus zu gehen.

 

Die fatale Folge davon ist, dass man auch nach Stunden und Tagen immer noch im Kreis läuft und sich vom Ausgangspunkt nicht weiter als ein paar hundert Meter fortbewegen kann. Die grösste Chance auf Rettung hat man daher, wenn man an einem Ort auf Hilfe wartet.

 

Die durch durch die Desorientierung ausgelöste Panik und Angst machen es dem Verlorenen jedoch schwer, klar zu denken und rationale Entscheidungen zu treffen. 90% aller verlorengegangene Personen verschlechtern jedoch durch ihr «im Kreis gehen» ihre Chancen auf Rettung. Nervosität, Bestürzung, Verärgerung, Stress und Angst gipfeln oft in einer Panikattacke, können sich jedoch auch bis zu Wahnvorstellungen steigern.

 

Wenn Verlorene wieder gefunden werden, dann oft auf einem Weg, Pfad, Bahngleis oder Waldrand dem sie gefolgt sind und der ihnen Halt gab.

Mensch am Baum

Stadt Sinn

 

Die Orientierung in grossen Städten fällt uns oft schwer, egal ob diese wie London «gewachsen» oder nach Raster «geplant» sind wie z. B. in New York. Für die gute Lesbarkeit von Städten ist der richtige Mix an baulichen Komponenten hilfreich, damit es nicht zu verwirrend oder zu repetitiv wird.

 

Zur einfachen Navigation brauchen wir Pfade (Reiserouten), Kanten (Grenzen, die verschiedene Bereiche voneinander trennen), Bezirke (deutliche Regionen in der Stadt), Klusterpunkte (Kreuzungen oder Plätze, wo wir uns treffen können) und Landmarks (Sehenswürdigkeiten, Hügel und grosse Gebäude) nach denen wir uns ausrichten können.

Karten missverständlich

Bin ich hier?

 

Am Anfang und Ende unseres Lebens sind wir alle gleich. Wir haben keinen Plan im Kopf. Als Baby ist das nicht weiter schlimm; doch diese Freiheit wieder abzugeben – nachdem wir uns ein Leben lang darauf verlassen konnten – ist z. B. im Alter mit Demenz eine furchtbare Vorstellung.

 

Wenn Alzheimer-Patienten umherirren ist dies ein Zeichen dafür, dass sie sich ans Leben klammern; davon geht die Wissenschaft zumindest aus. Denn wie Otl Aicher einst sagte: «Orientierung (und somit Bewegung im Raum) ist eine Voraussetzung überhaupt existieren zu können.»

Babys und Rentner sind navigational verwirrt

Schlusswort

 

Seit dem 2. Mai 2000 brauchen wir uns um die Orientierung keine Sorgen mehr zu machen und können überall hinreisen, auch wenn wir den Weg dorthin nicht kennen! Was für ein Luxus! Doch hat das GPS (Global Positionen System) unser Leben nur positiv beeinflusst?

 

Was die Spätfolgen und wie die Auswirkungen auf unsere Gehirne durch den Gebrauch des GPS sind wird man wohl erst in ein paar Jahren sagen können. Wer sich aktiv und bewusst mit seiner Umgebung auseinandersetzt tut nicht nur etwas für seine persönliche Demenz-Vorsorge, sondern auch für sein körperliches und seelisches Wohl.

Überrasche dich sich selbst: Geh einen Teil deines heutigen Heimwegs via einem Umweg und zu Fuss!

Heimweg ohne GPS finden