Kartografie
Entwicklung und Geschichte der Kartengestaltung
April 2019 | Irene Stutz
Funktionale Karten und Übersichtspläne spielen in der → Signaletik eine zentrale Rolle: Sie sind Einstieg und Anknüpfungspunkt für die Besucher eines Areals oder Gebäudes. Sie bilden die topografische Situation ab und sind eine Art Inhaltsverzeichnis eines Ortes. Dabei spielt der Standort des Lesers eine zentrale Rolle. Dieser muss offensichtlich sein und hilft, sich zu orientieren. Karten und Pläne sollten dabei der Blickrichtung des Betrachters entsprechen und nicht grundsätzlich nach Norden gerichtet sein. Je nach Platzierung und Ausrichtung der Karte braucht es so verschiedene Darstellungen des Ortes.
Beispiel verschiedener Kartenausrichtungen der → Wohnüberbauung Triemli 1 der Baugenossenschaft Rotach (Signaletik: Signito GmbH).
Das Wechselspiel zwischen den Vorstellungen des Nutzers eines Ortes und der gestalterischen Darstellung ist die grösste Herausforderung für uns Gestalter. Dieses Wechselspiel muss gut funktionieren, damit orientierende Karten und Pläne in Signaletik-Systemen hilfreich sind. Wir setzten uns deshalb in unserer Arbeit intensiv mit den beiden Parametern «Vorstellungen» und «Darstellungen» auseinander. Neben der Ausrichtung der Karten und Pläne spielen in der gestalterischen Arbeit dabei zentrale Rollen:
- Perimeter, Umgebung, Bewegungslinien und Zielorte
- Grundriss vs Varianten von Perspektiven
- Abstraktionsgrad, Detailgenauigkeit
- Farbigkeit; Flächen vs Liniendarstellungen
- Icons, Piktogramme, grafische Elemente
- Sprachen, Texte, Legenden
- Ergänzungen, Informationen
- etc.
Die grafische Darstellungsform von Karten und Plänen prägt immer auch die Identität der Umgebung selbst. Historische Karten erzählen durch ihre Gestaltung und insbesondere in Dekorationen die Geschichten und Sichtweisen der damaligen Menschen. Geografische Kartendarstellungen sind deshalb sehr eng mit der menschlichen Entwicklungsgeschichte verbunden und Überschneiden sich mit diversen Fachgebieten (Geschichte, Ethnographie, Recht, Theologie, Kunst, Mathematik, Vermessung, Geodaten, Geoinformation, Astronomie, Drucktechnik, etc.).
Es lohnt sich also, einen Blick in die Entwicklung von Karten zu werfen; hier ein kleiner Ausschnitt:
1. Prähistorische Karten
Pavlov-Karte26’000 v. Chr. | Tschechien
Prähistorische, kartografische Strichdarstellung auf einem Mammutstosszahn.
mobile HolzkartenInuits, Grönland
Taktile Darstellung von Küstenlinien als Umrisse in Treibholz.
Bedolina15’000 v. Chr. | Italien
Ältester bekannter Ortsplan auf Stein, der an einen heutigen Katasterplan erinnert.
Strömungskartewestlicher Pazifik
Strömungskarte für Lehrzwecke aus Mittelrippen von Palmblättern (Muscheln = Inseln).
Erdkarte nach Eratosthenes (276 – 195 v. Chr.)Alexandria (Ägypten)
Eratosthenes berechnete als erster den Erdumfang und erfand das erste Gitternetz-System für Kartendarstellungen.
«Asien» aus «Geographia» von Ptolemäus (87 – 150 n. Chr.)Alexandria (Ägypten)
Das Karten-Buch «Geographia» von Ptolemäus enthält geografische Koordinaten, Symbole, Text und Grafik.
Tabula Peutingeriana1. Jh., römisches Reich
Ausschnitt links
Ausschnitt mitte
Die gesamte Karte ist eine 675 cm x 34 cm breite Pergamentrolle.
Das hochentwickelte Militärwesen und der intensive Handel zwischen den Provinzen der Römer förderte die Kartografie. So entwickelten sie zum Beispiel die Tabula Peutingeriana eine Ost-West-Strassenkarte mit Entfernungsangeben und dem Zentrum Rom («alle Wege führen nach Rom»).
2. Mittelalter
Im Mittelalter verharrt die europäische Kartografie in den religiösen Vorstellungen ihrer Zeit. Es herrschen schematische Weltbilder und christliche Topografien vor. Meist wird eine von Wasser umflossene Scheibe (O) in Form eines «T» durch das Festland (Europa, Afrika, Asien) geteilt.
Mappe Mundi | TO-Karten
Mappe Mundi | TO-Karten
Pilgerroute London — Denver
3. Neuzeit
Dank der Seefahrt im 15. Jahrhundert (Kolumbus, Magellan) entwickelten sich auch Karten in Europa wieder – in Form von Portolanen. Meist auf Pergament zeigen sie im Detail und farbenreich Küstenlinien, Häfen und Landmarken. Später illustrieren repräsentative Kolonialkarten des Weltreiches in Schulzimmern und Arbeitsräumen die damaligen Machtverhältnisse in Kartenform.
Charles Joseph Minard entwickelte die Kartografie zur Infografik: Er stellt den Russlandfeldzug mit einer beeindruckenden Vielzahl von Informationen dar:
- Grösse und Aufenthaltsort der Truppen und Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt
- Bewegunstrichtung der Armee
- Temperatur auf dem Rückzug von Moskau
Eventuell ist diese Darstellung die erste Informationsgrafik überhaupt?
Portolan auf Pergament (Küstenlinien)
um 1500
Imperial Federation Map of the World
1889
Russlandfeldzug der Napoleonischen Armee im Jahr 1812/13
Charles Joseph Minard, gezeichnet 1869
Carte de Cassini
1750 — 1793, Frankreich
Dufourkarte
1845 — 1865, General Guillaume-Henri Dufour
Dufourkarte
1845 — 1865, General Guillaume-Henri Dufour
Vom 17. bis 18. Jahrhundert werden insbesondere in Frankreich neue Methoden zur Kartografie entdeckt. Die Familie Cassini vermisst in dieser Zeit Frankreich vollständig. Auf der «Carte de Cassini» werden erstmals Symbole für viele verschiedene Details des Landes verwendet (Strassen, Flüsse, Dörfer, Weinberge, Seen, Windmühlen, …).
Auch in der Schweiz entsteht dank Guillaume-Henri Dufour als «Oberstquartiermeister der Eidgenossenschaft (Generalstabschef)» eine flächendeckende, detaillierte Karte des Landes. Diese bildet die Grundlage der heutigen Schweizer Landkarten, mit präziser, grafischer Gelädedarstellung. Das Bundesamt für Landestopografie swisstopo stellt online eine Zeitreise durch alle Epochen der Kartendarstellungen seit der Dufourkarte bis zur heutigen Landeskarten zur Verfügung: → Zeitreise von swisstopo.
In meiner Kindheit waren gedruckte Strassenkarten in Buchform (oder überdimensionierte, faltbare Karten) die einzige Orientierungshilfe für Reisende: ich erinnere mich gut an meine geforderte Mutter auf dem Beifahrersitz, die dem drängenden Vater auf der Italienreise die richtige Ausfahrt oder die anstehende Abzweigung ansagte. Heute übernimmt das die nette Stimme des im Auto verbauten Navi. Genau so kombinieren wir heute die Informationen von → Google Maps und → Street View oder → OpenStreetmap mit den Karten und Plänen in unseren Signaletik-Systemen.
In der ersten Version von → Google Maps AR Direction/Live View zeigte mir (dank genauer Verortung durch Abgleich der Videoaufnahmen meiner Kamera und den bei Google gespeicherten Gebäudefassaden von StreetView) ein kleiner Fuchs auf meinem Smartphone, wo genau ich abbiegen muss, um mein Zielort zu erreichen. Leider wird Mr. Fox wohl nicht weiterentwickelt – er war zu wenig faszinierend, weil er «nur» die Richtung angeben konnte – und das können Pfeile genau so gut. Von Pfeilen erwartet die Nutzer aber keine zusätzlichen Informationen, Hinweise oder Tipps zur Umgebung…