Design for the Real World

Ein Blick in die Zukunft und die Vergangenheit von Design

März 2022 | Nayan Gurung

Das Buch «Design for the Real World» von Viktor Papanek wurde ursprünglich 1970 veröffentlicht, später überarbeitet und 1985 erneut publiziert. Obwohl das Buch jetzt schon vor fast 40 Jahren geschrieben wurde, sind die behandelten Themen heute überraschend – und leider immer noch sehr aktuell.

 

Behandelt und stark kritisiert werden Themen wie Konsum, Kapitalismus und Eigenverantwortung. Im Zentrum steht aber immer der Designprozess, wie dieser optimiert werden kann, welche Verantwortung der Designer trägt, was für Auswirkungen kleinste Entscheidungen haben können und welche Rolle der Designer in unserer Gesellschaft einnimmt und einnehmen sollte. Papanek illustriert seine Gedanken und Pläne fesselnd durch zahlreiche Studien, Experimente und Projekte.

 

Design liegt in unserer Natur, wir sind alle Designer. Aber wir sind nicht nur Künstler, Grafikerinnen oder Modedesigner, wir sind auch Lehrer, Bäckerinnen oder Politiker. Wir formen unsere Mitmenschen, unsere Nahrung und Umwelt, aber auch jede kleine Entscheidung, die wir treffen, «designt» unseren Tag und unser Leben.

Designer beeinflussen Konsum, Kapitalismus

Designer:innen haben viel Einfluss auf die Gesellschaft und tragen somit viel Verantwortung.

 

Design responsibility

 

Viktor Papanek argumentiert, dass der Designer die volle Verantwortung für die Folgen seiner Taten trägt. Die Entscheidungen eines Designers bestimmen, wie das gestaltete Objekt genutzt wird und welche Ergebnisse erzielt werden. Wie kleinste Designentscheidungen extreme Auswirkungen haben können, kann an einem Beispiel erklärt werden. Ein Designer entscheidet sich, das Armaturenbrett eines neuen Autos etwas aufzuhübschen, dabei wird ein essenzieller Knopf 30 cm weiter vom Steuer entfernt. Das führt dazu, dass der Fahrer zwei Sekunden länger abgelenkt ist.

 

Durch diese Entscheidung sterben über die nächsten fünf Jahre 20’000 Personen. Diese Zahlen basieren auf einer Hochrechnung einer Studie im Programm zur Verkehrssicherheit an der Cornell-Universität.

 

Nicht jede Entscheidung eines Gestalters führt sofort zu Toten. Trotzdem trägt der Designer die Verantwortung zum Thema Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit und Funktionalität. Beispielsweise belohnt unsere Gesellschaft Massenproduktion, während Qualität in den Hintergrund rückt. Wichtiger wäre aber ein qualitativ hochwertiges Produkt, das eine möglichst lange Lebensdauer hat und ohne Probleme wiederverwertet oder entsorgt werden kann.

 

Ein weiteres Konzept, das Papanek kritisiert, ist «applied art». «Applied art» ist die unnötige Verschönerung eines Produktes, um es für den Konsumenten ansprechender zu machen. Papanek beschreibt, dass die Gestaltung Teil des Designprozesses sein sollte und nicht im Nachhinein noch «aufgeklebt» wird. Das Aussehen sollte auch die Nutzbarkeit spiegeln und Brauchbarkeit nicht einschränken.

 

«The lesson of this book: to design for people’s needs rather than their wants.»

Applied Art Toaster

Design sollte Teil des Prozesses und des Objekts sein, nicht ein im Nachhinein «aufgeklebtes» Element.

 

Environmental design

 

Umweltverschmutzung ist heute ein bekanntes Problem, aber nicht nur die Natur leidet. Es existieren viele Beispiele, gesundheitliche Probleme von Einzelpersonen, die ein direktes Resultat von Verschmutzung sind. Wir wissen, dass der Einsatz von «Agent Orange» in Vietnam zu zahlreichen genetischen Schäden geführt hat. Aber menschliche Generationen dauern zu lange, um evolutionäre Entwicklungen effektiv zu demonstrieren.

 

Etwas besser erkennbar sind die Veränderungen der Pfeffermotte in England. Die Motte besitzt silberne Flügel mit dunklen Markierungen, perfekt um sich auf Birkenstämmen vor Feinden zu tarnen. In Manchester und anderen industriereichen Gebieten, mutierte die Motte über mehrer Generationen. Um sich in der smogverseuchten und Russ bedeckten Umgebung besser zu tarnen, verschwand der silberne Teil der Flügel mit der Zeit komplett. Es war sogar möglich, den Verschmutzungsgrad anhand der gesammelten Motten einzuschätzen. Dies zeigt unseren Einfluss auf die Entwicklung einer ganzen Spezies über mehrere Generationen. Nur weil wir Veränderungen in unserer Evolution noch nicht erkennen, heisst das nicht, dass wir unsere Entwicklung nicht auch beeinflussen.

Pfeffermotte

Es ist wichtig, unsere Designentscheidungen nachhaltig und mit Rücksicht auf unsere Umwelt und auf uns zu treffen.

 

Design for survival and survival through design

 

Im letzten Kapitel wird die Wichtigkeit von Ästhetik noch einmal genauer behandelt. Obwohl Funktionalität in unseren Alltagsgegenständen eine bedeutendere Rolle spielen sollte, hat die Balance zwischen Funktionalität und Ästhetik einen grossen Einfluss auf unsere Entwicklung und Gesellschaft.

 

Ein Experiment von Professor David Krech an der Universität von Kalifornien in Berkley beweist anhand von Ratten den Einfluss eines ästhetisch bereicherten Umfelds. Krech bildete zwei Gruppen von Ratten: Die erste Gruppe wuchs in einer deprivierten Umgebung auf, mit ähnlichen Bedingungen, wie sie Menschen in Slums, Barrios, Favelas oder Ghettos vorfinden. Die Umgebung war überfüllt, es gab wenige Hygienemöglichkeiten, die Nahrung war uninteressant und dürftig, das Ganze wurde in dauerhafte Halb-Finsternis getaucht und immer wieder von unstrukturierten Geräuschen untermalt.

 

Die zweite Gruppe wuchs in einem bereicherten Umfeld auf: Farben, Texturen und Materialien wurden sorgfältig ausgewählt und inszeniert. Die Nahrung und das Wasser war vitaminreich und es wurde genug Platz für soziale Aktivitäten geschaffen. Langsam wechselnde Farben, Licht und sanfte Musik verbesserten die Umgebung weiter.

 

Die Ergebnisse des Experiments zeigten, dass die Ratten der bereicherten Umgebung eine deutlich bessere Lernkapazität, schnellere mentale Entwicklung, mehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an neue Stimuli und ein viel besseres Gedächtnis entwickelten. Extrem interessant waren aber deren Nachkommen, die wieder in einem normalen Laborratten-Umfeld aufwuchsen. Obwohl die Nachkommen beider Gruppen wieder im selben Umfeld aufwuchsen, hatten die Nachkommen der «bereicherten» Gruppe einen deutlichen Vorsprung. Das Experiment wurde wiederholt, diesmal aber mit identischer Nahrung für beide Gruppen, die Resultate blieben aber dieselben.

 

Dieses Experiment widerspricht eigentlich der «Was dich nicht umbringt macht dich stärker»-Mentalität. Logischerweise kann ein Rattenexperiment nicht eins zu eins auf Menschen übertragen werden. Trotzdem, eine Studie der US-Marines zeigte auch, dass Soldaten, die «vom Leben abgehärtet sind», nicht besser oder länger durchhalten; im Gegenteil, Soldaten aus «bereicherten» Umgebungen widerstehen der Verwüstung durch Umgebung und Kampf viel einfacher.

Ratte auf Stuhl mit Krone

«Was dich nicht umbringt, macht dich SCHWÄCHER.»

 

«In a world of abject want, a preoccupation with only making things pretty is a crime against humanity. But to design things that work well but fail otherwise is an equally fundamental error.»

 

Fazit

 

Der Buchinhalt wird meine zukünftigen Designentscheidungen definitiv beeinflussen. Viele der im Buch angeführten Punkte sind und waren mir schon bekannt. Interessant und manchmal beängstigend ist aber die Tatsache, dass das Buch 1984 geschrieben wurde und immer noch hochaktuell ist.

 

Nach dem Lesen sehe ich mich als Designer in einem komplett anderen Licht. Ein Designer gestaltet nicht nur ein Schild, eine Webseite oder einen Flyer, jedoch unsere gesamte Gesellschaft. Wichtig ist auch der Designprozess und die Entscheidungen, die zum Ziel führen. Das gestaltete Objekt muss nicht nur gut aussehen, es muss auch funktionieren.

 

Das Buch ist extrem umfangreich und reich an Experimenten, Ideen, Geschichten und Spekulationen. Es ist praktisch unmöglich, das Buch in einem Blogbeitrag zusammenzufassen und seiner Botschaft gerecht zu werden. Es lohnt sich darum, das Buch selbst in die Hand zu nehmen und zu lesen.